F

Wieso "Jens in Trouble"? Nun ja - mein ungeliebtes Hobby sind eben... Schwierigkeiten! Meist auf Reisen. Was im Kindesalter anfing, als ich mich in weiblicher Begleitung im Wald verlief, wurde nicht besser in Irland auf dem Blechdach, in Namibia mit den Reifen unseres Mietautos, dem im Bus vergessenen Flugticket oder dem Versuch, ohne Reisepass in die USA zu kommen. Und da war ja noch die Sache an der ägyptischen Grenze... na gut, lassen wir das. Ich steck einfach öfters mal "in Trouble"!

2006/08/30

Mein Tag in Gaza

Ich denke: Wenn ein Thema es wert ist, mein unbegründetes Blog-Schweigen zu brechen, dann doch bestimmt mein Tag in Gaza. Was hat man nicht in den letzten Wochen alles vom Gaza-Streifen gehört: zu erst einmal natürlich relativ... nichts. Dass die israelische Armee abseits des Kriegs im Norden gegen die Hisbollah eine aufwändige zweite Front im Süden gegen Terroristen und deren Aktivitäten aus dem Gaza-Streifen betreibt, blieb ja verhältnismäßig wenig beachtet. Ist ja schließlich fast schon "daily business". Doch die Verschärfung der Lage in Nahost diesen Sommer hat ja immerhin durch die Entführung des Hauptgefreiten Galid Shalit am 25. Juni begonnen, bei der zwei israelische Soldaten getötet und (inklusive Gilad Shalit) fünf verwundet wurden. Seitdem wurden über 200 Menschen im Gaza-Streifen getötet. Ich versuche, das so wertfrei wie möglich zu sagen, weil ich nicht weiß, wie viele davon mit Waffen in der Hand oder Rakete im Keller als Terroristen oder Terrorverdächtige galten. Erst seit Kriegsende stieg die internationale Medienpräsenz durch die zwei Wochen andauernde Entführung eines amerikanischen Fox-Reporters mit seinem neuseeländischen Kameramann. Seit heute Morgen gibt es jetzt auch eine Reisewarnung vom US State Department für Gaza und die Westbank.

Nach mehrtägiger Vorlaufzeit konnte unsere Kontakt-person in Gaza, Zachariye Talmas, ARD-Mitarbeiter und ehemaliger Fatah-Funktionär und u.a. Kommandeur der ersten Intifada, die Vereinbarung dreier Interviews festlegen. Gleichzeitig stimmte das dann auch noch mit der Zusage der Einreisemöglichkeit durch die IDF überein. Manchmal lassen die gar keinen in den Gaza-Streifen einreisen.

Nach dem üblichen Durchleuchten, Pass- und Presseausweiskontrolle, Ausstellung eines Tagesvisums am Grenzübergang Eres können wir durch den etwa einen halben Kilometer langen Betontunnel zu Fuß in den Gaza-Streifen "einreisen". Wir marschieren durch den stillen, leeren Gang auf den palästinensischen Grenzposten zu. In anderen Zeiten harren hier frühmorgens tausende Palästinenser aus, bis sie aus dem Gaza-Streifen aus- und nach Israel zu ihrer Arbeit einreisen können. Der Grenzbeamte empfängt uns freundlich lachend, trägt unsere Passnummern in seine Liste ein. Dann dürfen wir passieren.

Auf dem Parkplatz erwartet uns Zachariye mit seinem Golf IV. Nicht dass sich die Landschaft in den letzten 500 Metern großartig verändert hätte, aber irgendwie fühle ich mich "in the middle of nowhere". Verschlissene Palästinaflaggen wehen im Wind. Parkplatz, Checkpoint, Straße sind von aufgetürmten S-Draht-Rollen umgeben. Nur einen Steinwurf entfernt ein ehemaliges Industriegebiet, dessen Fabrikhallen brach da liegen, die verkohlten Fensteröffnungen klaffen wie faule, schwarze Zahnlücken im Zahnbild. Wir steigen ins Auto und Zachariye fährt uns die wenigen Kilometern bis nach Gaza-Stadt. Zerbombte Häuser am Straßenrand, Schlaglöcher en masse, Eselkarren, Staub, und Abfall. Von einer leichten Anhöhe blicken wir auf die Stadt: Gaza soll die weltweit am dichtesten besiedelte Stadt sein. (Zahlen finde ich dazu keine; im gesamten Gaza-Streifen knapp 4000 Einwohner je Quadratkilometer, die Zahlen differieren aber.) Der Gaza-Streifen soll eine der größten Bevölkerungswachstumsraten haben (3,7%), 48% sind unter 15 Jahre alt (Quelle: CIA World Factbook).

Die Hauptstraßen der Stadt sind an diesem Morgen nicht gefüllt, aber belebt. Weil das Benzin so teuer geworden ist, können sich viele das Autofahren nicht mehr leisten. Da hat Zachariye wenigstens genug Platz immer und überall zu überholen. Rote Ampeln sind nur ein grober Anhalt, wobei "grober Anhalt" nicht unbedingt auch "anhalten" impliziert. Verkehrskommunikation nur mittels Hupe, eine Grundregel lautet Augenkontakt vermeiden: Wer sich umschaut, hat schon verloren. Kurz: So einen Verkehr hab ich noch nie gesehen. Und es sind noch nicht mal viele Autos unterwegs. Auf Verkehrsinseln, Gehsteigen, in Parkbuchten sammelt sich der Müll. Die LKW der Stadtreinigung fahren hupend im Protestkonvoi durch die Stadt. Die Männer streiken, weil ihnen seit sieben Monaten keine Gehälter gezahlt werden. In einer unasphaltierten, staubigen Nebenstraße sehe und rieche ich, was es bedeutet, wenn die unterirdische Kanalisation nicht funktioniert und die Abwässer am Bordstein entlanglaufen.

Das Alltagsleben findet weitgehend öffentlich auf der Straße statt. Jedenfalls das der Männer. Die Arbeitslosenrate liegt bei 30% (im Mai 2006; jetzt vermutlich höher; Link zur Quelle), die Männer rauchen Wasserpfeife, trinken Kaffee und Tee. Die Jüngeren lungern in den zahlreichen Autowerkstätten. Aber es gibt vielerlei Geschäfte in Gaza: Elektrogeräte, Bauwaren, Stoffe, Lebensmittel, Internetcafes. Den in der Jerusalemer Zeitung beworbenen DSL-Internetzugang für Gaza werden sich wohl nur wenige leisten können. Hier, wo so viele Männer mit ihren Eselkarren unterwegs sind und Metall jeder Art, Baumaterial, Stacheldrahtrollen sammeln. Alles, was nicht niet- und nagelfest und noch brauchbar ist. Größter Arbeitgeber scheint mir aber die Hamas zu sein. An jeder Straßenecke sitzen oder stehen junge bewaffnete Männer in ihren schwarz-grauen Flecktarn-Uniformen. Es ist übrigens gar nicht so leicht, die richtige Vokabel für sie zu finden. Polizei ist es nicht. Armee auch nicht. Eher so eine Art Partei-Miliz. Wenn man die Hamas überhaupt als politische Partei anerkennt. "Was machen die denn hier?", frage ich Zachariye. "Kriegen die Anweisungen, was sie machen müssen? Oder warten die nur auf die nächste Schießerei?" Schulterzucken vom Fahrersitz: "Eher letzteres", meint unser Begleiter, "sie zeigen, dass die Hamas hier die Macht ist."

Unseren ersten Interviewpartner des Tages treffen wir in Zachariyes Büro. Ghazi Hamad ist Regierungssprecher und Hamas-Mitglied, früher Redakteur der arabischen Wochenzeitung Al-Risala. Hamad kritisierte die Politik der Hamas zuletzt recht offen. Im Gespräch heute wiederholte er dies zum Teil. Während er eigene Fehler - also Fehler der Hamas - frei zugibt ("Wir sind verantwortlich für viele Dinge, die passieren."), klagt er auch über Israel und die internationale Gemeinschaft: "Man sollte der palästinensischen Seite nicht alle Fragen stellen, sondern auch der israelischen. [...] Wir brauchen Antworten von den Israelis. Aber die sagen immer nur 'Nein!'" Zur Verbesserung der Lage in Gaza sieht Hamad, der Tiermedizin studierte und sein Pharmakologie-Masterstudium im Sudan abbrechen musste, weil Israel ihn für fünf Jahre inhaftierte, "keine Alternative zur Zusammenarbeit zwischen Hamas und Fatah", erkennt das Gefangenenpapier als "Referenz für die zukünftige Entwicklung.

Was Fatah-Funktionäre dazu sagen, werde ich im zweiten Teil des Gaza-Postings berichten. Den gibt's aber erst morgen.