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Wieso "Jens in Trouble"? Nun ja - mein ungeliebtes Hobby sind eben... Schwierigkeiten! Meist auf Reisen. Was im Kindesalter anfing, als ich mich in weiblicher Begleitung im Wald verlief, wurde nicht besser in Irland auf dem Blechdach, in Namibia mit den Reifen unseres Mietautos, dem im Bus vergessenen Flugticket oder dem Versuch, ohne Reisepass in die USA zu kommen. Und da war ja noch die Sache an der ägyptischen Grenze... na gut, lassen wir das. Ich steck einfach öfters mal "in Trouble"!

2007/11/20

Dem empörten Aufschrei Unaufgeregtheit entgegensetzen

Die Sachlage: Am 5. September 2007 trat die aus Israel kommende Hip-Hop-Gruppe DAM (engl. für “Da Arabic MCs“, hebr. Blut, arab. Blut/Ewigkeit), bestehend aus den drei arabischen Israelis Tamer Nafer, Suhell Nafer und Mahmoud Jreri, die sich selber als „1948-Palästinenser“ bezeichnen, gemeinsam mit den israelischen Hip-Hop-Stars Mooki (oder Mook E) und Piloni bei den Jüdischen Kulturtagen der Jüdischen Gemeinde Berlin auf.

Am gleichen Tag verfassten (laut juedische.at) Peter und Daniel Iranyi, vermutlich Mitglieder der Gemeinde und – auch das nur eine Vermutung – bei der Veranstaltung anwesend, einen Brief an den Gemeindevorstand, in dem sie sich über den Auftritt der Band beschwerten, den diese dazu genutzt habe, „gegen den Staat Israel zu hetzen und Hasstiraden zu verbreiten“. Es könne nicht sein, „dass auf einer jüdischen Veranstaltung Hasstiraden gegen den - jüdischen - Staat Israel ausgesprochen werden. Darüber hinaus mutet es auch pervers an, dass das (z.T. israelische)Wachpersonal bei dem Konzert die provozierende Band vor dem aufgebrachten (z.T. jüdischen) Publikum schützen sollte.“ Ferner bezeichnen die Iranyis Texte von DAM als „wahrheitsverzerrend und israelfeindlich“, stellen „zweifelhafte Inhalte und unsägliche Analogien“ fest. Sie fordern den Rücktritt bzw. die Absetzung des Organisators der Kulturtage, dem Vorstandsmitglied Peter Sauerbaum, sowie eine Entschuldigung bei den Gemeindemitgliedern.

Am 19. September antwortete Herr Sauerbaum den Iranyis laut juedische.at (Link wie oben), dass von ihm mit einer Stellungnahme „zu Ihren kunstfernen Erklärungen“ nicht zu rechnen sei.

Ich habe den Auftritt von DAM nicht gesehen und daher weiß ich auch nicht, welche Songs die Band vorgetragen hat. Wie Peter und Daniel Iranyi habe ich lediglich einen „Blick in
den Menüpunkt ‚Lyrics’ auf der bandeigenen Homepage http://www.dampalestine.com“ (Zitat aus ihrem Brief) gewagt, um mehr über DAM zu erfahren. Bisher kannte ich die Hip-Hop-Band aus diesem Artikel der israelischen Journalistin Lisa Goldman, die u. a. das Verhältnis zwischen den ehemals befreundeten DAM-Sänger Tamer und dem bekannten israelischen Rapper Subliminal erklärt:

Subliminal claimed he broke contact with Tamer over the issue of suicide bombers. “After the Dolphinarium bombing, Tamer said that he identified with the suicide bombers,” says Subliminal in an outraged tone […] “That means he supports terrorism.” In response, Tamer snorts derisively and says, “You see? He’s an idiot—not even worth responding to. Our collaboration didn’t end because of political reasons. It ended because the guy is beneath my level. He’s simply not very intelligent. He doesn’t even understand that hip-hop is the language of protest and anger. I never said I supported terrorism. I said I understood the rage that motivated the terrorists.”

Solche Aussagen und die Message, die DAM in ihrem 2003 veröffentlichten Song “Min Erhabi?“ („Wer ist der Terrorist?“) vertreten (das Musikvideo zeigt israelische Soldaten, die palästinensische Kinder schlagen und treten sowie auf steinewerfende palästinensische Kinder schießen, und erreichte weltweit hohe Klick- und Downloadzahlen), wurde zum bekanntesten Merkmal der Gruppe. Stein des Anstoßes in der jüdischen Welt wird im Kern sicherlich folgende Passage sein:

„Your killing us like you’ve killed our ancestors / You want me to go to the law? / What for? / You’re the witness, the lawyer, the judge / If you’re my judge / I’ll be sentenced to death / You want us to be the minority? / To end up the majority in the cemetery? / In your dreams! / You’re a Democracy? / Actually it’s more like the Nazis! / Your countless raping of the Arabs’ soul / Finally impregnated it / gave birth to your child / his name: Suicide Bomber / And then you call him the terrorist?”

Ich bin der Meinung, dass das ein Unterschied ist zu der Aussage im juedische.at-Artikel von Levi Salomon (in Kopie übrigens bei Wadi-Blog), der schreibt, dass durch den Auftritt ein Beitrag geleistet worden sei, „die Gruppe ‚DAM’, die Juden als Nazis beschimpfte, salonfähig zu machen“. (Eine ähnliche Meinung vertritt „Wind in the Wires“.)Bei näherer Betrachtung finde ich in DAM vielschichtigere Musiker, denen die nicht ganz korrekte Reduzierung auf die Forderung, der jüdische Staat Israel müsse abgeschafft werden, nicht gerecht wird. Tamer Nafers Aussage im Interview mit der „Jüdischen Zeitung“ (Doppelinterview mit Mooki): „Gleichheit, Zusammenleben. Es geht mir um die Flagge und die Hymne. Die müssen geändert werden. Ich will einen Staat für alle Bürger“, ist vielmehr wohl so zu werten, dass er der Meinung ist, der Staat müsse seinen jüdischen Charakter abschaffen, um eine wirklich Demokratie zu sein. Denn Nafer sagt im gleichen Gespräch als Kontrast zu Mookis Aussage, „wenn ein Jude in einem arabischen Land das sagen würde, was DAM sagt, würde er aufgehängt werden“, weshalb Israel immer noch eine Demokratie sei, folgendes: „Aber noch immer frage ich mich, welche Demokratie ist das, in der ich lebe? Ich lebe in Lod, mir stehen 100 Prozent zu. Die stehen mir zu, aber ich bekomme weniger. Deshalb kämpfe ich. Als Araber bekomme ich keine Baugenehmigung, keine arabische Erziehung, arabische Themen werden nicht im Fernsehen gezeigt“, „Und Du kannst das auch nicht so einfach mit anderen Staaten vergleichen, wie etwa dem Iran. Im Vergleich zu echten Demokratien sind beide Scheiße: Iran und Israel.“ Tamer Nafer sagt schließlich: „Der Siedler [im Westjordanland] will den Staat für sich, nur für die Juden. In meinem Staat kann jeder leben, Araber und Juden.“

Ich bin bei weitem nicht für Verharmlosung fragwürdiger Vergleiche, aber doch klar dafür, sie etwas unaufgeregter zu betrachten. Für einen Juden mag die Passage „jüdischer Staat nicht demokratisch, sondern wie Nazis“ eine „unsägliche Analogie“ (Iranyi, s.o.) sein, für den Verfasser, der sich als Rapper, als Musiker, als Künstler sieht, ist sie eine provokantes Stilmittel des Genres Hip-Hop. Ich wiederhole ein Zitat aus dem Nextbook-Artikel: „hip-hop is the language of protest and anger.”

Andere israelische Hip-Hop-Musiker und Musikexperten (Mooki im gemeinsamen Interview (s.o.) und hier swoie Musikkritiker Shai Fogelman und der Tel Aviver Club-Besitzer Daniel Sarid hier) sehen DAM bei weitem nicht unkritisch, erkennen aber den gesellschaftlichen Wert ihres musikalischen Engagements auf Hebräisch und Arabisch an.

Ich meine, dass sich diese unaufgeregtere, aber ernstnehmende Wahrnehmung einer palästinensischen Stimme aus Israel auch durch die Texte des aktuellen Albums von DAM, „Dedication“, begründen lässt.

In “Hibuna Ishtruna” (“Love us and Buy us”) nennen DAM ihre Waffen: “We are DAM's soldiers, in one hand it's the pen / in the other hand, it's the mic and the anger is our ride.” Mit ihrer Musik wollen die Drei etwas bewegen, und wenn man es nur als eine Anregung zum Dialog versteht, als Werben für Verständnis ihrer Situation ist:

”We are dying slowly / controlled by a Zionist democratic government! / ya', democratic to the Jewish soul / and Zionist to the Arabic soul / that is to say, what is forbidden to him is forbidden to me / and what what is allowed to him is forbidden to me / and what's allowed to me is unwanted by me / 'cause it's denying my existence / still blind to my colours, my history and my people / brain-washing my children / so that they grow up in a reality / that doesn't represent them / the blue idea card worth nothing to us / let us believe we are a part of a nation / that does nothing but makes us feel like strangers / me?? A stranger in my own country!! […] the whole world till today is treating us as Israelis / and Israel till tomorrow will treat us as Palestinians / I'm a stranger in my own country.” [aus: “G'aareb Fi Bladi” (“Stranger in My Own Country)]

Über ihre Zukunftsvision singen DAM in “Sawa’ Al Zaman“ (“Driver of Fate“): “Tell the driver of time, to take me from Forbidden / Drop me in Equality and I'll walk alone to Peace [...] take me to / a future without settlements, without refugee camps / and every one is growing where his roots is / without destroying their house / to a world where I'm allowed to visit my brothers in Syria / where there's no occupation to imprison me / where the Arabs agree for the first time in their lives / to the change ...”

Dass sich DAM daneben auch sozialen, nur sekundär politischen Themen widmen, hat Lisa Goldman in ihrem Artikel (Link s.o.) geschrieben (Rolle der Frau in der arabischen Gesellschaft, Drogenproblematik).

Eine Zeile aus dem den Albumtitel konstituierenden Track “Ihda’” (“Dedication”) macht mir Hoffnung für eine differenziertere Wahrnehmung von DAM: “This goes out to you all, all human beings / no matter what religion, what colour, from me to you.“ Diese Hoffnung sieht Tamer Nafar auch selber: Sowohl im Nextbook-Artikel als auch im auf der Bandhomepage eingepflegten Video-Interview spricht er davon, dass er Hoffnung sieht:

“We began with one message and another message came through - there's hope. There's a spark like a flame in the darkness of a cave. We hope it works out.”

Ende der Funkstille

Nach einiger Funkstille habe ich beschlossen, mich von Zeit zu Zeit diesen oder jenen Themen zu widmen und an dieser Stelle von mir verfasste Texte zu veröffentlichen. Inhaltlich werde ich mich keineswegs festlegen und einfach schauen, was so kommt, was mir unter den Nägeln brennt.

Heute brannten meine Nägel nämlich, als ich einen Link zu einem Artikel auf juedische.at entdeckte. Aber lest selbst.

2006/09/07

Ziellinie überquert

Für ein Langsam-neigt-sich-meine-Zeit-in-Israel-dem-Ende-Posting ist es jetzt wohl schon zu spät. Denn jetzt sitze ich am Flughafen Roma-Fiumicino und warte auf den Anschlussflug nach München. Die letzten Tage habe ich schreibtechnisch - wie man sehen kann - ganz faul verstreichen lassen.

Nun - was habt Ihr verpasst? Damit ich mich nicht überarbeite, beschränke ich mich auf einige Erkenntnisse.

Freitag: Ich treffe einen ZDF-Praktikanten - oder soll ich ihn besser ZDF-Sklaven nennen? Ganze 77 Cent am Tag gönnt das öffentlich-rechtliche Fernsehen ihren Praktikanten (die eine ganze Stelle besetzen, also volle Arbeit leisten). Hauptsache die Damen und Herren düsen im weißen Audi A6 mit fetten Alus durchs Heilige Land und schlafen in den besten Hotels (American Colony in Jerusalem). Okay, lieber 0,77 Euro als gar nichts (so wie ich), aber „der Dienstherr“ bezahlt mich ja gescheit. Den zivil studierende Praktikantenkollege nicht.

Samstag: Ich sag nur Dschachnun und Kubaneh - jemenitisches Shabbat-Essen. Echt lecker! Wo gibt's das in Deutschland?

Sonntag: In Caesarea treffe ich die Herren Herodes, Pontius Pilatus, Paulus und auch Helena, Mutter Kaiser Konstantins im virtuellen Interview. Durch die gelungenen Computeranimationen über die abwechslungsreiche Geschichte der Römer-, Kreuzfahrer- und Araberhafenstadt in der Tat eines der besten Museen, in denen ich gewesen bin. Und dieses Lob kommt mir wirklich nicht leicht über die Lippen... Wirklich beeindruckend!

Montag: Ich treffe Nir, der während des Meloim, dem israelischen Armeereservedienst, im Libanoneinsatz war und in einem einstürzenden Haus durch die Etagen purzelte. Offenbar mit Schutzengel: Ihm passierte nichts. Ganz im Gegensatz zu acht seiner Kameraden, die ums Leben kamen. Jetzt ist Nir Mitbesitzer einer angesagten Diskobar mit Meerblick in Herzliya. Mich beeindruckt einfach, dass hier fast jeder eine bestimmte Geschichte zu erzählen hat. Viele haben Gewalt und Zerstörung ganz anders erlebt, als wir Mitteleuropäer das vielleicht aus erster Hand kennen. Und trotzdem geht für alle das Leben so normal wie möglich weiter.

Dienstag: Zum perfekten Abschluss meines Israelaufenthaltes verwirkliche ich den Traum eines jeden Wassersportlers. Ich surfe am Abend dem Sonnenuntergang entgegen, vor mir breitet sich das Mittelmeer aus. Wenn ich mich umschaue, sehe ich die rot schimmernden Hochhäuser der Skyline von Tel Aviv. Einfach traumhaft.

Mittwoch: Nach einem leckeren Frühstück mit meinem Freund und Gastgeber Miki in einem tollen Café mit Meerblick (Ihr merkt schon meinen Schwerpunkt der letzten Tage: das Meer genießen!) müssen wir schon zum Flughafen. Die Ausreise gestaltet sich erfreulich leicht, stelle ich fest, wenn man die richtigen Leute bei der Airport-Security kennt. Nach einem gut dreistündigen Flug, an dem ich von Mr. Bean, Tom und Jerry sowie Road Runner und seinem Widersacher unterhalten werde, lande ich in Rom. In einer Dreiviertelstunde fliege ich weiter nach München. Wird langsam auch Zeit, die besch... italienischen Mücken zerstechen mir meine kurzbehosten Beine. Echt fies, die Viecher.

Lesen könnt ihr diesen Schund erst, wenn ich ihn später am Abend von München aus ins Internet stelle.

Bis dahin parliere ich ganz italienisch... Ciao, Amore.

2006/09/01

Action in der britischen Botschaft

Eben fiel es mir wieder ein - ich wollte ja noch was nachgucken.

Aber der Reihe nach: Als ich gestern Nachmittag in Tel Aviv unterwegs war, ist nahe der britischen Botschaft erst mal nur Stau. Ich gehe weiter und je näher ich der Botschaft komme, desto größ:er wird die Dichte an Polizeiwagen, Fotografen und Kamerateams. Hier muss doch irgendwas los sein. Die umherstehenden Neugierigen wissen auf meine Nachfrage auch nicht, was los ist. Auf dem umzäunten und mit Sicherheitsanlagen geschützten Parkplatz der Botschaft sehe ich zwischen den Autos nur zwei maskierte Bewaffnete stehen. Genaueres ist wegen der Entfernung nicht zu erkennen. Das was so interessant ist, wird zudem vom Zaun und von den parkenden Autos verdeckt. Ich entscheide mich, noch etwas zu warten. Als aber nichts weiter Interessantes passiert oder zu sehen ist, gehe ich weiter und beschließe, am Abend im Internet zu suchen.

Das hatte ich (natürlich) zunächst vergessen, hab's aber gerade nachgeholt. Ein in Israel lebender Palästinenser namens Nadim Injaz (28), der als V-Mann für den Inlandsgeheimdienst Shin Bet (auch Shabak; Shin und Bet sind nur die beiden Buchstaben, die "Shabak" abkürzen) arbeitete, ist bewaffnet in die Botschaft eingedrungen und wollte mit Selbstmord drohend ein Asyl erzwingen. Nachdem der Shin Bet ihn nicht mehr zur Informationsbeschaffung herangezogen hatte, wollte der Mann in seine Heimatstadt nach Ramallah ins Westjordanlnad zurückkehren. Von Bekannten erfuhr er, dass er dort als Kollaborateur umgebracht würde. Nur ein Angriff auf Israel könnte dies wieder wettmachen. "Was sollte ich denn machen? Bei einem Angriff Juden umbringen?", soll er rhetorisch gefragt haben. Stattdessen entschied er sich für die Variante "Erpresste Flucht nach England". Die Pistole dazu soll sich im Nachhinein als eine Spielzeugwaffe entpuppt haben. Während der gesamten Aktion sind keine Schüsse gefallen, Injaz wurde offenbar durch ein Beruhigungsmittel im Essen überwätigt.

Quellen: Reuters und BBC.

2006/08/31

"So sind wir Israelis!"

Heute Abend habe ich an einer großen Demonstra-tion für die Freilassung der drei entführten israelischen Soldaten teil-genommen. 30.000 oder 40.000 [Update: 60.000] Menschen hatten sich auf dem Yitzchak-Rabin-Platz versammelt. T-Shirts, Aufkleber, Plakate trugen das Konterfei der zwei am 12. Juli nahe der libanesischen Grenze von der Hisbollah gekidnappten Ehud Goldwasser und Eldad Reghev sowie des am 25. Juni in einem Kibbuz beim Gaza-Streifen entführten Gilad Shalit, eine bekannte Schauspielerin moderierte durch das Programm: Tel Avivs Oberrabbiner betete, der Bruder von Eldad Regev hielt eine kraftvolle Ansprache, bekannte (also zumindest den Einheimischen bekannt) Bands und Sänger gestalteten den Abend musikalisch. Ein Lied handelte von Major Ron Arad, der im Oktober (sein Jet wurde abgeschossen) zwanzig Jahre in Gefangenschaft der Hisbollah ist.

Nicht nur dieser Bezug macht die Veranstaltung emotional. Wieder muss man versuchen, sich in die Israelis hinein zu versetzen. Erst mal haben wir hier den Veranstaltungsort, den Yitzchak-Rabin-Platz. Der Platz, auf dem 1995 hundert- oder zweihunderttausend Menschen für den Fortgang des Friedensprozesses nach Unterzeichnung des Abkommens von Oslo demonstrierten. Ein rechtsradikaler Jude aus Herzliya erschoss den beliebten Politik Yitzchak Rabin, als der nach seiner Rede von der Bühne zum Auto ging. Wochen danach ging besonders die junge Generation, vom Wunsch nach Frieden getrieben, zum Platz der Könige Israels, um dort Blumen niederzulegen und Kerzen anzuzünden. Später wurde der Platz dann umbenannt.

Auf diesem Platz trafen sich heute also wieder Menschen der verschiedenen Generationen. Die Generation der heute etwa 50-Jährigen, die den Jom-Kippur-Krieg 1973 als ein schweres Trauma empfinden. Die 40-Jährigen haben als Erinnerung ihres "Erwachsenwerdens" den ersten Libanonkrieg. Die 30-Jährigen gehöhren im Prinzip immer noch zur vorigen Generation, sind aber vielleicht auch die Rabin-Generation. Und die 20-Jährigen steckten gerade mitten drin im Krieg.

Wenn ich also vom Rabin-Platz mit vielleicht 40.000 [Update: 60.000] Israelis spreche, sind das immer auch 40.000 [Update: 60.000] Reservisten, Soldaten oder künftige Soldaten. Es sind immer auch Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter von Soldaten, von traumatisierten, verletzten, gefallenen oder entführten Soldaten.

Im Gespräch mit einem geschätzt 50-jährigen Mann sagt er mir über die Tatsache, das für das Anliegen dieser drei Geiseln so viele Menschen zusammenkommen, "Genau so sind wir Israelis!"


Zum Abschluss gibt's noch ein paar Links zum Thema:
Die Stiftung "Born to freedom" kämpft für vermisste israelische Soldaten.
Die Stiftung für die drei diesen Sommer entführten Soldaten, die auch die Demo organisiert hat.
Der aktuelle Bericht in Haaretz über die Demonstration.
[Update: Artikel bei tagesschau.de]

Mein Tag in Gaza, Teil 2

Von Zachariyes Büro fahren wir durch eines der besseren Viertel Gazas in Richtung Küste. Der winzige Prozentsatz reicher Geschäftsleute aus Gaza zieht sich in modernen Villen hinter hohen Mauern zurück. Mein Praktikumschef und WELT-Korrespondent Norbert Jeßen erinnert sich an seine Zeit beim Fernsehen zurück, als er mit Kamerateam - nachdem der Hausmeister geschmiert war - eines der teuren Grundstücke ansehen kann. Im aufwändig angelegten Garten plätscherten Brunnen vor sich hin. "Wenn es etwas gibt, das hier noch wertvoller ist als Boden, dann Wasser", sagt er. Die Grundstückspreise sollen hier noch höher sein als in den besten Ecken Tel Avivs. Direkt am Strand aber keine Luxushotels oder Villen mit Meerblick, sondern eines der Armenviertel Gazas, aus dem der palästinensische Premierminister Ismail Haniye stammt und in dem er immer noch wohnt. Aber wenn 80% der Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, sollte man vielleicht lieber die nicht ganz so armen Viertel zählen.

Am Strand treffen wir im Schatten strohbedeckter Pavillons den ehemaligen Minister für Gefangenenangelegenheiten und Fatah-Politiker, Dr. Sufian Abu Saida (auch Zaida, Zaydeh, Saideh etc. geschrieben). Es ist wieder eine der Situationen, in denen ich mir klar machen muss, wo ich bin. An der schlaglöchrigen Küstenstraße hinter uns hocken an einer Mauer bestimmt 50 junge Männer mit nacktem Oberkörper in einer langen Reihe im Schatten. Wären Wächter dabei, würde ich sie für Gefangene halten; in Wirklichkeit sitzen sie dort, um sich freiwillig für die Hamas-Miliz zu melden. Um uns herum toben Kinder am Swimming Pool, beim Volleyball, kleckern mit Wassereis. Die Vereinten Nationen unterstützen den Country Club unter dem Motto "I don't want to live in fear". Und vor uns liegt ein wunderschöner Sandstrand, die Kinder springen in die Wellen, an denen die Surfer aus Tel Aviv wohl ihre wahre Freude hätten. Die Bemerkung liegt mir auf der Zunge, aber es wäre wohl - vorsichtig gesagt - nicht ganz der richtige Zeitpunkt dafür: Im Rücken die Hamas-Rekrutierung, im Country Club wummern die Dancefloor-Bässe von "I'm a barbie girl" und vor der Küste patrouilliert ein Schnellboot der israelischen Marine. Über die Kinder als Zukunft des Gaza-Streifens sagt Zachariye nur: "Frag die Kinder: 'Was willst du werden?' Und sie antworten nicht etwa 'Doktor', sondern 'Märtyrer'. Warum? Warum?"

Im Gespräch mit Sufian Abu Saida dann kommen mir einige Punkte doch reichlich bekannt vor (siehe letztes Posting). "Wir müssen uns selbst aufs Heftigste die Schuld geben. [...] Es hängt nur von uns ab", beginnt er sein Statement, um daraufhin zu sagen, dass die Palästinenser viele Probleme gar nicht selber zu lösen imstande seien. "Wir brauchen die Akzeptanz und Übereinstimmung der Israelis. Wer denkt, der braucht das nicht, wird weiter Problemen gegenüberstehen", erkennt er die Abhängigkeit von Israel und kritisiert im gleichen Atemzug die Hamas-geführte Regierung. Die habe immer gesagt, sie bräuchte kein Geld von der EU und den Vereinigten Staaten und beschwere sich jetzt, dass sie keine finanzielle Unterstützung bekomme. So kommt es, dass jetzt Gehälter nicht gezahlt werden. Rivalisierende politische Milizen bekämpfen sich gegenseitig. "Ich will, dass die Regierung meine Kinder beschützt, ich möchte nicht in Gefahr gebracht werden", schimpft er und nennt drei einfache Maßnahmen, mit denen er 95% der Verbrechen in Gaza verhindern will: "Erstens: Keine maskierten Bewaffneten mehr auf denb Straßen! Warum auch? Wenn die getötet werden, werden Fotos von ihnen eh veröffentlicht. Zweitens: Keine Fahrzeuge ohne Kennzeichen, Anmeldung und Versicherung mehr auf den Straßen." Es sei ja ein Unding, dass in Gaza Polizei- und Hamas-Autos ohne Nummernschild unterwegs seien. Als drittes würde Abu Saida schwarz getönte Autoscheiben verbieten.

Ob diese Vorschläge für den angegebenen Zweck nun geeignet sind oder nicht, spielt eigentlich die geringere Rolle. Wichtig war für mich zu sehen, dass Gaza nicht nur Kassam-Raketen auf Israel und israelische Luftwaffe auf Gaza bedeutet. Innenpolitisch ist der Gaza-Streifen auch nicht mit (west-) europäischen Maßstäben bewertbar. Mit Hamas und Fatah streiten nicht nur zwei Parteien um die Macht, sondern auch zwei Organisationen mit militärischen Kräften an ihren Seiten. Und das alles in einer Infrastruktur, die vorwiegend von Armut, Zerstörung, Abwesenheit von staatlicher, wirklich ordnender Gewalt geprägt ist. In diesem Umfeld geben die Menschen die Hoffnung nicht auf. Natürlich nicht. "Unabhängig von der Partei sind wir alle Palästinenser", sagt Abu Saida. Aber die Gemeinschaftlichkeit mit der Hamas fällt dem 46-Jährigen nicht leicht, wenn er etwa davon berichtet, dass die Hamas einen guten Freund ermordet hat. Dennoch sagt er, "verschließen wir von der Fatah uns nicht" einer möglichen Zusammenarbeit. Ähnlich wie Regierungssprecher Ghazi Hamad sieht auch Sufian Abu Saida das Gefangenenpapier als "guten Start".

Dritter Gesprächspartner an meinem Tag in Gaza ist Abdallah Frangi, seit diesem Jahr Vorsitzender der Fatah in Gaza. Vorher war Frangi lange als
Generaldelegierter Palästinas in Berlin. Er soll übrigens 1972 als palästinensischer Studentenführer die Olympia-Attentäter in seiner Münchner Wohnung beherbergt haben, ohne indes vom Vorhaben der Terroristen zu wissen. Das Interview führen wir problemlos in deutscher Sprache. Frangi spricht sehr überlegt und macht auf mich den Eindruck, seine Worte sorgfältig auszuwählen. Nachdem die "Gewalt auf den Straßen weniger geworden" sei, arbeite man nun an einer "Atmosphäre für politischen Dialog und einer Regierung der nationalen Einheit". Dazu stellt der studierte Politologe und Mediziner (Studium in Frankfurt am Main) klare Forderungen an die Hamas: "Behebung des Boykotts der Geldgeberländer und der internationalen Isolation". Interne Querelen seien "überhaupt keine Einschränkung für die Aussichten, die Hamas zu verdrängen". Klar, dass er sich da sicherer ist, als Abu Saida, der bei einer nächsten Wahl den Sieg der Hamas prophezeite. "Wir haben keine Führer, keine Aktionen", kritisierte er Abdallah Frangi, "und wir wollen keine neuen Führer, sondern nur dass sie was tun."

Nach dem Gespräch mit Abdallah Frangi sind wir bald wieder zurück am Grenzübergang nach Israel. Es ist so leicht für uns, wieder zu gehen. Aber die Palästinenser haben diese Möglichkeit nicht, sie müssen versuchen, die vielen Probleme in den Begriff zu bekommen. Sufian Abu Saida sagte dazu zweierlei: "Es gibt keinen, der den Schlüssel zur Lösung des Problems hat." Und: "Gott hilft uns [zwar], aber nicht bei allem. Wenn wir uns nicht selbst helfen, hilft Gott uns auch nicht."

2006/08/30

Mein Tag in Gaza

Ich denke: Wenn ein Thema es wert ist, mein unbegründetes Blog-Schweigen zu brechen, dann doch bestimmt mein Tag in Gaza. Was hat man nicht in den letzten Wochen alles vom Gaza-Streifen gehört: zu erst einmal natürlich relativ... nichts. Dass die israelische Armee abseits des Kriegs im Norden gegen die Hisbollah eine aufwändige zweite Front im Süden gegen Terroristen und deren Aktivitäten aus dem Gaza-Streifen betreibt, blieb ja verhältnismäßig wenig beachtet. Ist ja schließlich fast schon "daily business". Doch die Verschärfung der Lage in Nahost diesen Sommer hat ja immerhin durch die Entführung des Hauptgefreiten Galid Shalit am 25. Juni begonnen, bei der zwei israelische Soldaten getötet und (inklusive Gilad Shalit) fünf verwundet wurden. Seitdem wurden über 200 Menschen im Gaza-Streifen getötet. Ich versuche, das so wertfrei wie möglich zu sagen, weil ich nicht weiß, wie viele davon mit Waffen in der Hand oder Rakete im Keller als Terroristen oder Terrorverdächtige galten. Erst seit Kriegsende stieg die internationale Medienpräsenz durch die zwei Wochen andauernde Entführung eines amerikanischen Fox-Reporters mit seinem neuseeländischen Kameramann. Seit heute Morgen gibt es jetzt auch eine Reisewarnung vom US State Department für Gaza und die Westbank.

Nach mehrtägiger Vorlaufzeit konnte unsere Kontakt-person in Gaza, Zachariye Talmas, ARD-Mitarbeiter und ehemaliger Fatah-Funktionär und u.a. Kommandeur der ersten Intifada, die Vereinbarung dreier Interviews festlegen. Gleichzeitig stimmte das dann auch noch mit der Zusage der Einreisemöglichkeit durch die IDF überein. Manchmal lassen die gar keinen in den Gaza-Streifen einreisen.

Nach dem üblichen Durchleuchten, Pass- und Presseausweiskontrolle, Ausstellung eines Tagesvisums am Grenzübergang Eres können wir durch den etwa einen halben Kilometer langen Betontunnel zu Fuß in den Gaza-Streifen "einreisen". Wir marschieren durch den stillen, leeren Gang auf den palästinensischen Grenzposten zu. In anderen Zeiten harren hier frühmorgens tausende Palästinenser aus, bis sie aus dem Gaza-Streifen aus- und nach Israel zu ihrer Arbeit einreisen können. Der Grenzbeamte empfängt uns freundlich lachend, trägt unsere Passnummern in seine Liste ein. Dann dürfen wir passieren.

Auf dem Parkplatz erwartet uns Zachariye mit seinem Golf IV. Nicht dass sich die Landschaft in den letzten 500 Metern großartig verändert hätte, aber irgendwie fühle ich mich "in the middle of nowhere". Verschlissene Palästinaflaggen wehen im Wind. Parkplatz, Checkpoint, Straße sind von aufgetürmten S-Draht-Rollen umgeben. Nur einen Steinwurf entfernt ein ehemaliges Industriegebiet, dessen Fabrikhallen brach da liegen, die verkohlten Fensteröffnungen klaffen wie faule, schwarze Zahnlücken im Zahnbild. Wir steigen ins Auto und Zachariye fährt uns die wenigen Kilometern bis nach Gaza-Stadt. Zerbombte Häuser am Straßenrand, Schlaglöcher en masse, Eselkarren, Staub, und Abfall. Von einer leichten Anhöhe blicken wir auf die Stadt: Gaza soll die weltweit am dichtesten besiedelte Stadt sein. (Zahlen finde ich dazu keine; im gesamten Gaza-Streifen knapp 4000 Einwohner je Quadratkilometer, die Zahlen differieren aber.) Der Gaza-Streifen soll eine der größten Bevölkerungswachstumsraten haben (3,7%), 48% sind unter 15 Jahre alt (Quelle: CIA World Factbook).

Die Hauptstraßen der Stadt sind an diesem Morgen nicht gefüllt, aber belebt. Weil das Benzin so teuer geworden ist, können sich viele das Autofahren nicht mehr leisten. Da hat Zachariye wenigstens genug Platz immer und überall zu überholen. Rote Ampeln sind nur ein grober Anhalt, wobei "grober Anhalt" nicht unbedingt auch "anhalten" impliziert. Verkehrskommunikation nur mittels Hupe, eine Grundregel lautet Augenkontakt vermeiden: Wer sich umschaut, hat schon verloren. Kurz: So einen Verkehr hab ich noch nie gesehen. Und es sind noch nicht mal viele Autos unterwegs. Auf Verkehrsinseln, Gehsteigen, in Parkbuchten sammelt sich der Müll. Die LKW der Stadtreinigung fahren hupend im Protestkonvoi durch die Stadt. Die Männer streiken, weil ihnen seit sieben Monaten keine Gehälter gezahlt werden. In einer unasphaltierten, staubigen Nebenstraße sehe und rieche ich, was es bedeutet, wenn die unterirdische Kanalisation nicht funktioniert und die Abwässer am Bordstein entlanglaufen.

Das Alltagsleben findet weitgehend öffentlich auf der Straße statt. Jedenfalls das der Männer. Die Arbeitslosenrate liegt bei 30% (im Mai 2006; jetzt vermutlich höher; Link zur Quelle), die Männer rauchen Wasserpfeife, trinken Kaffee und Tee. Die Jüngeren lungern in den zahlreichen Autowerkstätten. Aber es gibt vielerlei Geschäfte in Gaza: Elektrogeräte, Bauwaren, Stoffe, Lebensmittel, Internetcafes. Den in der Jerusalemer Zeitung beworbenen DSL-Internetzugang für Gaza werden sich wohl nur wenige leisten können. Hier, wo so viele Männer mit ihren Eselkarren unterwegs sind und Metall jeder Art, Baumaterial, Stacheldrahtrollen sammeln. Alles, was nicht niet- und nagelfest und noch brauchbar ist. Größter Arbeitgeber scheint mir aber die Hamas zu sein. An jeder Straßenecke sitzen oder stehen junge bewaffnete Männer in ihren schwarz-grauen Flecktarn-Uniformen. Es ist übrigens gar nicht so leicht, die richtige Vokabel für sie zu finden. Polizei ist es nicht. Armee auch nicht. Eher so eine Art Partei-Miliz. Wenn man die Hamas überhaupt als politische Partei anerkennt. "Was machen die denn hier?", frage ich Zachariye. "Kriegen die Anweisungen, was sie machen müssen? Oder warten die nur auf die nächste Schießerei?" Schulterzucken vom Fahrersitz: "Eher letzteres", meint unser Begleiter, "sie zeigen, dass die Hamas hier die Macht ist."

Unseren ersten Interviewpartner des Tages treffen wir in Zachariyes Büro. Ghazi Hamad ist Regierungssprecher und Hamas-Mitglied, früher Redakteur der arabischen Wochenzeitung Al-Risala. Hamad kritisierte die Politik der Hamas zuletzt recht offen. Im Gespräch heute wiederholte er dies zum Teil. Während er eigene Fehler - also Fehler der Hamas - frei zugibt ("Wir sind verantwortlich für viele Dinge, die passieren."), klagt er auch über Israel und die internationale Gemeinschaft: "Man sollte der palästinensischen Seite nicht alle Fragen stellen, sondern auch der israelischen. [...] Wir brauchen Antworten von den Israelis. Aber die sagen immer nur 'Nein!'" Zur Verbesserung der Lage in Gaza sieht Hamad, der Tiermedizin studierte und sein Pharmakologie-Masterstudium im Sudan abbrechen musste, weil Israel ihn für fünf Jahre inhaftierte, "keine Alternative zur Zusammenarbeit zwischen Hamas und Fatah", erkennt das Gefangenenpapier als "Referenz für die zukünftige Entwicklung.

Was Fatah-Funktionäre dazu sagen, werde ich im zweiten Teil des Gaza-Postings berichten. Den gibt's aber erst morgen.

2006/08/25

Tel Aviv

Saftreklame in der stylischen Sheinkin-Street.




Das Sherut hält auch in Zion.



















Kriegserklärung.
Alles ist im Krieg.
Die Katzen auch?

Link zur Grossman-Rede auf Deutsch

So, sehr geehrte Damen und Herren,

jetzt gibt's noch flugs den Link zur deutschen Übersetzung der Grossman-Eulogie. Vielen Dank für die schnelle Zusendung. Es war ja gar nichbt allzu schwer zu finden, ich weiß gar nicht, warum ich das nicht entdeckt habe. Vielleicht war's gestern vormittag noch nicht online? Egal. Hier ist der Link!

2006/08/24

Grossmans Lobrede heute in der ZEIT

Im aktuellen E-Mail-Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin habe ich gelesen, dass heute in der ZEIT eine gekürzte, deutsche Fassung der Grabrede Grossmans über seinen Sohn Uri (Bild links) abgedruckt ist (btw: Seite 7).

Online habe ich diese nicht gefunden. Falls es jemand findet, bitte ich um den Link. Vielleicht findet sich ja auch ein ZEIT-Leser, der den Artikel mal eben auf den Scanner legt und mir per Mail zukommen lässt. Das wäre ja ganz vorzüglicher Service.

Lobrede auf einen Soldaten

In der Nacht vom 12. auf den 13. August sind wie an so vielen Tagen zuvor israelische Soldaten im Kampf gegen die Hisbollah gefallen. Einer von ihnen war nicht nur einer der gefallenen Kameraden, sondern in gewisser Hinsicht besonders. Als am nächsten Tag die Zeitungen voll von Bildern dieses jungen Soldaten waren, musste ich natürlich erst mal wieder nachfragen, wer das denn sei. "Uri Grossman, der Sohn von David Grossman, dem Schriftsteller", lautete dann die einhellige Antwort.

Gehört hatte ich den Namen ja durchaus schon, aber genaues wusste ich mit David Grossman, geschweige denn mit seinem Sohn Uri, nicht anzufangen. In ihrem gestrigen Posting schreibt meine - nach wie vor - favorisierte Bloggerin, die israelische Journalistin Lisa Goldman (auf dem Bild rechts), über David Grossman und seine Bedeutung für die Israelis.

Einige Passagen davon möchte ich (von mir übersetzt) zitieren und so auf die von David Grossman verfasste, am 16. August in der auflagenstärksten israelischen Zeitung Yedioth Achronoth erschienenen Lobrede auf seinen Sohn Uri einleiten. Die Übersetzung vom Hebräischen ins Englische leistete erneut Lisa Goldman, die Lobrede ist auch Teil des oben verlinkten Beitrags ihres Blogs. Das wiederum werde ich nicht ins Deutsche übersetzen, erstens weil der Text recht lang ist, und vor allem zweitens weil es so schön geschrieben ist und ich das nicht im Deutschen versauen möchte. Eckige Klammern stammen von mir und liefern Zusatzinformationen, Umformulierungen, Auslassungen und in der Lobrede Grossmans ein paar Übersetzungsvorschläge für einzelne Worte.

Ich lasse jetzt erst mal Lisa Goldman zu Wort kommen.

"Ich denke, für die, die weder Israeli sind noch Hebräisch sprechen, ist es sehr schwer zu verstehen, warum die Israelis Uri Grossmans Tod geschlossen beklagt haben. David Grossmans Sohn war kein politisches Symbol. Sein Tod war nicht einer der Momente, in denen Ikonen zerstört werden. Israelis, die David Grossman nicht persönlich kennen, haben mitgetrauert, weil David Grossman die Stimme ist, die unsere intimen Gefühle ausdrückt. Über die Familie, über den Tod. Seine Geschichten für Kinder sind sehr bekannt und beliebt - Geschichten wie die Itamar-Reihe oder das Buch Uri's Special Language ("Uri ist fast zwei Jahre alt und beginnt zu sprechen", fängt diese an, "nicht einmal seine Eltern verstehen, was Uri sagt."), das er schrieb, als sein Sohn Uri zwei Jahre alt war. [David Grossman ist so bekannt und beliebt, weil] seine Kurzgeschichten wie Someone to run with (für Teenager) [jetzt im israelischen Kino] und See under: Love so wunderschön geschriebene Ausdrücke zweier universeller Themen und besonders israelischer Erfahrungen sind. [...]

Gewöhnlich wird Grossman zur Gruppe Autoren der Generation of the State gezählt, die [...] sich sehr stark mit den großen Themen Zukunft des Staates und Situation der Juden beschäftigen. Grossman, der in der Mitte der achtziger Jahre berühmt wurde, schreibt auch über diese Themen, aber er hat einen viel sanfteren, zugänglicheren, menschlicheren Blickwinkel und ist viel näher am aktuellen Zeitgeist. Unvorstellbar etwa, dass [Amos] Oz oder [A.B.] Yehoshua [Zwei israelische Autoren, auf die sie sich vorher bezogen hat, den Part hab ich weggelassen.] den Text für einen erfolgreichen hebräischen Hip-Hop-Song schreiben würden.

Grossman weiß einfach, unsere Gefühle in Worte zu fassen. Als sein Sohn starb, dachten wir an all die Gefallenen oder Schwerverletzten des letzten Monats, die wir kannten, und wir konnten uns mit ihm identifizieren, weil wir so viele trauernde Familien und Freunde gefallener Soldaten kennen, die den gleichen Schmerz ertragen müssen. Weil Israel so ein kleines Land ist, kennt jeder jemanden, der eine Nachricht über seine Einberufung für den Kriegseinsatz im Libanon bekommen hat, oder jemanden, der gestorben ist oder verwundet wurde oder jemanden, der einen seiner Liebsten verloren hat."


Die sehr persönliche Lobrede des Schriftstellers David Grossman auf seinen Sohn Uri ist daher wohl vorrangig als ein wunderschön formulierter Zugang in die Gedankenwelt der Israelis zu werten. Trotz ihrer Individualität und Intimität und vielleicht sogar genau deswegen bildet sie vielleicht das ab, was viele Israelis denken und fühlen.

"Uri my dear,

Over the past three days almost every thought has begun with the word "no". No, he won’t come back. No, we won’t talk, and no we won’t laugh. No, there won’t be another boy like that, with the ironic look in his eyes and the fabulous sense of humour. No, there won’t be the young man who was so wise beyond his years, no there won’t be that warm smile and healthy appetite. No, there won’t be that rare combination of determination and gentleness, no there won’t be his straightforwardness and his wise heart. No, there won’t be any more of Uri’s infinite gentleness, and no there won’t be his inner quiet that calms every argument. And no we won’t watch The Simpsons or Seinfeld together, and no we won’t listen to Johnny Cash. And no we won’t feel your strong hugs. And no we won’t see you talking to Yonatan as you gesticulate wildly, and we won’t see you hug your beloved sister Ruthie.

Uri my love, throughout your short life we all learned from you. From your strength and your insistence on going your own way. For choosing your own path even if there was no chance you would succeed. With astonishment we watched your struggle to be accepted to an officers’ training course. You knew you would be a good officer, and you were never satisfied with being anything but the very best you were capable of. And when you succeeded I thought, Here is a man who has such a simple, sober understanding of his own abilities. He is completely free of pretension [Anmaßung] and arrogance. He is completely unaffected by what others say about him. His source of strength lies within himself.

That is the way you were from the time you were a child. You were a child who lived in harmony with himself and his environment. A child who knew he belonged, who knew he was loved, who knew his limitations and understood his uniqueness. And truly, when you forced the army to submit to your will and accept you as an officer, it was clear what kind of an officer and human being you would be. And now we hear from your friends and your soldiers about the officer and the friend, about how you would wake up before everyone else to arrange everything and go to bed only after everyone else had fallen asleep.

And yesterday, at midnight, I looked at the house that was quite a mess after hundreds of people came to visit and comfort us, and I said, Well, now we need Uri to help us tidy up.

You were the leftist [politisch links; in Israel: Friedensbewegung, Rückzugsbefürworter (Gaza, Westbank)] of your battalion, and they respected you, because you stood by your beliefs while carrying out all the missions you were assigned. I remember your telling me about your “checkpoint policy,” because of course you spent a lot of time at the checkpoints. You said that if there was a child in the car you stopped, you always started by trying to calm him down and make him laugh. And you always reminded yourself that the child was about Ruthie’s age, and that he was very afraid of you. And how much he hates you, and that he has reasons to hate, but in spite of that you would do everything in your power to make that terrible experience easier for him, while simultaneously doing your job without compromising.

When you entered Lebanon, Mum said that the thing she feared most was your “Eliphelet’s Syndrome.” [Eliphelet is the hero of a poem by Nathan Alterman, about a naïve soldier who unquestioningly sacrifices himself for others; the poem was set to music and sung by Arik Einstein, amongst other famous Israeli singers. According to the Hebrew bible, Eliphelet was the name of one of King David’s sons; Anmerkung von Lisa Goldman]. We were very afraid that, like the Eliphelet in the poem, if it was necessary to save a wounded soldier, you would run straight into the line of fire, and you would be the first to volunteer to “restock the supply of ammunition when it ran low” [a line from Alterman’s poem; Anmerkung von Lisa Goldman]. And that just as you were your whole life, at school and at home and during your army service, just as you always volunteered to give up your furloughs ["Fronturlaub"] because another soldier needed the break more than you did, or because someone else’s situation was more difficult – so you would behave there, in Lebanon, in the terrible face of war.

You were my son and also my friend, just as you were to your mother. Our souls are connected to yours. You were a person at peace with himself, a person whose company was a pleasure. I cannot express properly the extent to which you were someone to run with [reference to the title of Grossman’s novel for teenagers, Someone to Run With; Anmerkung von Lisa Goldman]. On each of your furloughs you would say, "Dad, let’s go talk." And we would go out together, usually to a restaurant, and sit and talk. You told me so many things, Uri, and I was so proud to be the keeper of your secrets. That a man like you chose me as your confidante.

I remember how you deliberated [gründlich überlegen] once whether or not to punish one of your soldiers who had committed some disciplinary offense. You really suffered over that decision, because you knew it would enrage your soldiers, and also other officers who were more forgiving than you of certain offences. And you did pay a high price for your decision to punish that soldier, but afterward that event became one of the legends of your battalion – a sort of measuring stick for proper behaviour and sticking to the law. And on your last furlough you told me with bashful pride that your commanding officer held up your decision as an example of correct behaviour for an officer.

You lit up our lives, Uri. Mum and I raised you with love. It was so easy to love you with all our hearts, and I know that your short life was a good one. I hope that I was a fitting father for a boy like you. But I know that to be your mother’s son means that you were raised with generosity and kindness and infinite love, and you received all of that in plentitude. And you knew how to appreciate that, to be grateful and not to take any of it for granted.

For now I am not going to say anything about the war in which you were killed. We, your family, have already lost this war. The State of Israel will have to do its own self-examination. We will retreat into our own pain, surrounded by our good friends, enveloped in the enormous love that we feel today from so many people, many of whom we didn’t even know, and I am grateful for their boundless support.

I only wish we all knew how to provide this kind of support and solidarity in different times. This is perhaps our greatest and most treasured national resource. I wish we knew how to be a little gentler with one another. I hope that we succeed in extricating ourselves now, at the very last minute, because even more difficult times are waiting for us.

I would like to say a few more words.

Uri was a very Israeli boy. Even his name was very Israeli, very much a Hebrew name. He was the essence of Israeli-ness as I like to see it. The kind that has been almost forgotten, that is sometimes considered almost a curiosity. Many times I looked at him and thought that he, like Ruthie and Yonatan, was almost an anachronism. Uri with his uncompromising directness and acceptance of complete responsibility for everything that happened around him. Uri who was always the one to take initiative, who was always completely reliable. Uri with his deep sensitivity for suffering, for all emotional pain.

Uri was a man of principle. That word has often been mocked over the past years. Because in our mad, cynical, world it is no longer “cool” to be principled. Or to be a humanist. Or to be truly sensitive to the suffering of others, even if the Other is your enemy on the battlefield.

But I learned from Uri that it is possible to be both principled and cool. That we do need to uphold our values and defend ourselves simultaneously. We have to insist upon upholding our values in the face of temptation to give in to power and simplistic thinking, to give in to the corruption of cynicism and contempt for humanity, which are the true, great curse of those who have lived their whole lives in our disaster-prone [zur Katastrophe neigend] region of the world.

Uri simply had the courage to be himself, always, in every situation, and to find his own voice in everything he did and said, and that is what protected him from the destruction, pollution and constricting of his soul.

Uri was also incredibly funny and witty. It is impossible to talk about Uri without mentioning his hilarious brilliance. For example, when he was 13 I once told him: “Imagine if you and your children were able to fly to outer space just as people fly today to Europe.” And he smiled: “I’m not so attracted to outer space, you can find everything on planet earth.”

Or another time, we were driving in the car, and his mother and I were discussing a new book that was attracting a lot of attention and talking about various authors’ reviews, and Uri who was 9 years old piped up from the back seat: “Hey, you elitists, remember that there are simple people back here who don’t understand a word of what you’re talking about!”

Or for example Uri, who really did not like figs [Feigen], once held a bunch of dried figs in his hand and said: “Remind me, aren’t dried figs just regular figs that sinned in a previous life?” Or when I once hesitated over accepting an invitation to Japan, Uri said: “How can you not go? Can you imagine what it’ll be like to visit the only country in the world where there are no Japanese tourists?”

Dear friends, on the night between Saturday and Sunday, at twenty minutes before three in the morning, our doorbell rang. The voice at the intercom said it was from “the municipal officer,” and I went to open the door and I thought to myself, “That’s it. Life is over.”

But within five minutes, when Michal [Grossman’s wife; Anmerkung von Lisa Goldman] and I went into Ruthie’s room and woke her up in order to tell her the horrible news, Ruthie, after her first tears, said: “But we will live, right? We will live just as before, and I want to continue to sing in the choir, and that we will continue to laugh as always, and I want to learn to play the guitar.” And we hugged her, and we told her we would live. And Ruthie also said: “What a fantastic threesome we were, Yonatan, Uri and I.”

And you really were a fantastic team. Yonatan, you and Uri were not just brothers, but soul mates, with your own world and your own private language and your own sense of humour. And Ruthie, Uri loved you with all his heart and soul. He always treated you with such gentleness, and I remember how during our last phone conversation, when we were so happy that the UN was about to declare a ceasefire, he insisted on speaking with you. And how you wept afterward. As if you already knew.

Our lives are not over. We have just suffered a very hard blow. We will draw the strength we need to absorb the blow from one another, from our togetherness, from Michal and from me and from our children and also from the grandparents who loved him with all their hearts – “neshumeh,” they called him, because he really was all soul – and from your aunts and uncles and cousins and from all your many friends from school and from your comrades in arms who accompany us here with such concern and deep affection.

And we will also draw our strength from Uri. He had such a plentitude of strength that it will serve us for many years. He radiated such strong vitality and vibrancy, such warmth and love, and his light will continue to shine on us forever – even if the star itself is extinguished.

Our beloved one, it was our great privilege to live with you. Thank you for every moment you were ours.

Mom, Dad, Yonatan and Ruthie"